Malamut als Kind

Das Kind Malamut war schweigsam. Aus etwas schrägen grauen Augen musterte es seine Umgebung mit scheinbarer Teilnahmslosigkeit. Schon früh zeigte sich, daß es ein sonderbares Kind war. Rohes Fleisch aß es am liebsten. Wenn es welches bekam, winselte es vor Freude.

Im Sommer saß das Kind Malamut am liebsten auf dem Dach. Dort versuchte es sich im Fangen von Vögeln oder Wolken, obwohl es manchmal Angst hatte, in den Himmel zu fallen. Auch im Winter wäre es gern auf dem Dach gesessen, aber die Großmutter hielt es mit ihren Geschichten im warmen Zimmer fest. Die Großmutter! Das Kind Malamut konnte stundenlang zu ihren Füßen sitzen, das Gesicht in ihrem herabhängenden wollenen Umhang verborgen und den darin wohnenden Geruch nach den Feuern der Urzeit einatmend.

Im Kindergarten brachte man dem Kind Malamut Respekt entgegen. Es stand oft ganz plötzlich hinter einer Hecke und sah einen mit seinen grauen Augen an. Wenn ein großes, dickes Kind ein kleines, dünnes drangsalierte, konnte es sein, daß ein kleiner, aber schmerzhafter Stein dahergeflogen kam. Alle wußten, daß das Kind Malamut eine Schleuder besaß. Auch die größten und dicksten Kinder hielten sich von Malamut fern. Dafür suchten die Schwächeren seine Nähe. Das Kind Malamut sang ihnen bisweilen Lieder vor, die wie Wind klangen.

Ernst Reyer, 2004