Das Beleidigte Bild

Ein Bild hing seit zwanzig Jahren an der selben Stelle in der sogenannten Modernen Galerie unseres Kleinstadtmuseums. Da Labsaal, der Museumsdiener, niemals nach den Bildern sah, auch nirgendwo Hand anlegte, es sei denn an Jausenbrot und Bierflasche, konnte sich im Laufe der Zeit eine feine Staubschicht über die Exponate an den Wänden legen. Den Herstellern dieser Bilder, den Malern also, wäre es schwergefallen, ihre Werke wiederzuerkennen, denn diese verschwammen alle in einer Art warmem Grauton, einzig in den Oberflächen, je nach dem Grad ihrer Pastosität, ein wenig verschieden. Die Maler ahnten aber nichts davon, ließ man sie doch unter keinen Umständen in`s Museum hinein, da man wußte, daß sie, mit kleinen eingeschmuggelten Farbkästen bewaffnet, an ihren Bildern herumbessern würden. Das war natürlich streng verboten.

Jenes Bild nun, das der Gegenstand unserer Betrachtung ist, war anders als die übrigen Bilder. Es war an einem heiteren Sonntagmorgen gemalt worden und stellte, unter seiner Staubschicht, auf abstrakte Art ein munteres Bächlein dar, das durch eine Blumenwiese plätschert. Aus irgendeinem Grund war es nicht bereit, sein Verschwinden im gleichmacherischen Grau so einfach hinzunehmen. Als ein abstraktes Werk bestand es, im Stil seines Schöpfers, aus einem bunten Durcheinander aus gelben, roten und blauen Pinseltupfern, die, ohne kleinliche Bindungen, frei zumindest innerhalb ihres Rahmens, herumschwebten. Das Bild fühlte sich, aus welchem Grund auch immer, berufen, sich und seine Leidensgenossen aus schmachvoller Gefangenschaft in Staub und Ignoranz zu befreien. Der Plan, längst in allen Einzelheiten erwogen, gelangte zur Durchführung, als Labsaal gerade wieder einmal besonders respektlos vorbeilatschte, obendrein noch Knoblauchwurst verzehrend und die skandalöse Verstaubtheit um sich herum mit der üblichen Museumsdienerborniertheit ignorierend. Mit kaltblütiger Vorsätzlichkeit begann das Bild, die blauen Tüpfchen, die natürlich das Wasser darstellten, auf den Boden tropfen zu lassen, sodaß sich bald eine kleine Pfütze bildete, die rasch größer wurde. Labsaal, der zwei Stunden später wieder vorbeikam, fand zu seinem Schrecken bereits einen kleinen See vor, in welchen es mit feinem, aber durchdringendem `Pling` auf beunruhigende Art hineintropfte. `Alarm` schrie Labsaal und eilte zum Herrn Direktor. Sofort fand eine Besichtigung statt. Labsaal wagte zu äußern, daß man sofort die Polizei holen müsse, aber der Direktor war der Ansicht, daß es sich um einen Fall für die Feuerwehr handle. Labsaal wiedersprach wie immer. Der Direktor, der sich an Labsaals Art einfach nicht gewöhnen konnte, geriet in Wut und brüllte herum, ohne zu bemerken, daß er schon bis zu den Knöcheln im Wasser stand.

Als die Feuerwehr endlich kam, saßen der Direktor und Labsaal auf der Vordertreppe des Museums und wrangen ihre Socken aus. Zwischen ihnen rauschte ein munteres Bächlein daher, das, vereinzelt und in kleinen Gruppen, die Bilder der Modernen Galerie, nun wie frisch gewaschen, mit sich führte. Die leicht abschüssige Straße wurde zu einem seichten Flüßchen, an dessen Ufern, den Gehsteigen, sich staunende Passanten einfanden, unter ihnen bald auch die Maler der Bilder, die, kleine Farbkästen mit sich führend, ihren Werken nachliefen und sogleich mit dem Nachbessern begannen.

Nun, da alle Bilder aus dem Gebäude geschwemmt worden waren, verlief sich das Wasser. Die Moderne Galerie präsentierte sich in gähnender Leere. Einzig das Bild, das seine blauen Farbtupfer geopfert hatte, um sich und die anderen Gemälde aus der staubigen Haft zu befreien, hing noch an der Wand. Es hatte natürlich all sein Blau verloren. Experten behaupten, es sei dadurch eher besser geworden, aber warten wir lieber ab, wie sein Maler darüber denkt. Er soll sich gerade einen kleinen, unauffälligen Farbkasten gekauft haben.

Ernst Reyer, 1997