Edwin

Edwin, jung und unerfahren, hatte eine reichlich naive Vorstellung von der Welt. Da er über die saubere, ordentliche Umgebung, die sein Zuhause bildete, nie hinausgekommen war, meinte er, alles müsse so sein. Undenkbar, daß nicht überall, so wie hier, jedes Ding an seinem Platz war, in guter Ordnung und Verfassung bereit zu sinnvollem, vernünftigem Tun. Sauberkeit war für Edwin der einzig denkbare Zustand, ja geradezu der Urzweck allen Seins. Der herbe Geruch kraftvoller Reiniger, der Duft schaumintensiver Shampoos und betörender Badeöle war ihm ein einziges Versprechen ewiger Frische, ewigen Frühlings. Spiegelblanke Kacheln und blitzende Armaturen sorgten für eine optimistische, ja heitere Grundstimmung, die er, wie sollte es anders sein, für die Grundstimmung der Welt hielt.

Edwin betrachtete gerade eine kleine, unschuldige Haarnadel, als sich die Tür öffnete und die Dame des Hauses eintrat. Ein Gefühl von Vorfreude auf kommende Genüsse durchdrang ihn wie ein stilles Lächeln. Die Dame streifte den Morgenmantel ab und öffnete den Duschvorhang. Dann (auch sie schien nun zu lächeln) näherte sie sich Edwin und nahm ihn mit in die Dusche. Als das warme Wasser, ein Strom aus Wohligkeit, über die beiden herabzurauschen begann, fühlte Edwin, wie sein Körper unter den Händen der Dame weich und warm wurde. Eine große Geschmeidigkeit ging nun von ihm aus, umhüllte sie beide ganz und schien sie für Minuten (oder waren es Ewigkeiten?) eins werden zu lassen. Mit Hingabe glitt Edwin über zarte Haut, erforschte mit großer Gründlichkeit Wölbungen und Vertiefungen, glitt Beine entlang und schmiegte sich in Achselhöhlen. Und waren es nicht Ewigkeiten, so zumindest lange Minuten, denn die Dame des Hauses ließ sich Zeit. Edwin seinerseits hatte alle Zeit der Welt, war doch dies hier sein einziger Daseinszweck. Schließlich jedoch drehte die Dame den Warmwasserhahn zu, stieg aus der Dusche und legte Edwin in seine Seifenschale zurück. Da lag er nun zufrieden und begann langsam zu trocknen.

Ernst Reyer, 2006